1906

veröffentlicht von

Franz Schumi

 

Das jüdische Volk

Zur Zeit Jesu Christi

 

Erläutert durch K. L.

 

Zustände, Gewohnheiten und Gebräuche des jüdischen Volkes zur Zeit Jesu,

damit die missverstandene Auslegung der Bibel ans Licht kommt.

 

Nr. 56

 

 

Ausgabe in Originalsprache Verlag von Franz Schumi in Zürich;

Kommissionsverlag: Cécil Bägel, Altona (Elbe) Holstenstraße 191

Druck von Otto Buchholz in Hamburg

 

Nachdruck von Rudolf R. Hoff

Verlag für geistige Literatur 

 

 

INDEX

Prämisse

Das jüdische Volk zur Zeit Jesu Christi

Kap. 1

Das römische Reich

Kap. 2

Das jüdische Volk

Kap. 3

Die politischen und sozialen Zustände in Palästina

Kap. 4

Der Tempel, seine Tribute und Priesterschaft

Kap. 5

Synagogen und Lehrer

 

 

Prämisse

Das jüdische Volk zur Zeit Jesu Christi

1. Mit dem Folgenden werden die Leser in eine ferne Vergangenheit, in Verhältnisse und Zustände eingeführt, die von den heutigen mannigfach verschieden sind. Aber es gibt einen Namen, der jene ferne Zeit mit der unserigen verbindet und über die Kluft von Jahrhunderten und Jahrtausenden eine Brücke schlägt, - das ist der Name Jesus Christus. "Wie mag es wohl zu der Zeit ausgesehen haben, da unser Herr und Vater auf Erden wandelte?" muss sich der einfache Bibelleser immer wieder fragen. Manches, was uns die Evangelien erzählen, wird gar nicht oder nur halb verstanden, wenn wir die Zeit nicht kennen. Etwas Weniges möchte hiermit darüber mitgeteilt und etwas beigetragen werden zum Verständnis der evangelischen Geschichte durch eine kurze Schilderung der Zustände im Lande Palästina und im Volke der Juden zu der Zeit, da Jesus rief: «Die Zeit ist erfüllt und das Königreich Gottes herbeigekommen».

2. Zunächst muss betont werden, dass wir keineswegs arm an Nachrichten sind über den vorliegenden Zeitabschnitt. Es war ein Jahrhundert, in dem viel geschrieben wurde. Nicht nur Rom hatte seine Schriftsteller (wie Tacitus und Sueton, Horaz und Juvenal), die uns einen tiefen Eindruck in das Leben und Treiben der ersten Kaiserzeit gewähren, sondern auch das jüdische Volk. Über die Geschichte des Herodes und seiner Familie z.B. sind wir aus zeitgenössischen Quellen fast so genau unterrichtet, wie über die manches Fürstenhauses der neueren Zeit. Und über das Leben des jüdischen Volkes zur Zeit Jesu und Seiner Apostel berichtet uns mit großer Ausführlichkeit der Priester Josephus, der (im Jahre 70) an dem letzten großen Kampfe seiner Nation mit den Römern tätigen Anteil genommen und den Untergang Jerusalems als Augenzeuge mit furchtbarer Anschaulichkeit geschildert hat.

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Kap. 1

Das römische Reich

1. Unsere Weihnachtsgeschichte beginnt mit den Worten: [Luk. 5,1] «Es begab sich zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet würde».

2. Wir erkennen schon daraus, dass Palästina zur Zeit der Geburt Jesu ein Teil des römischen Reiches war und unter der Oberherrschaft des römischen Kaisers stand (wiewohl es damals noch nicht von römischen Beamten, sondern von Herodes verwaltet wurde). Dieses römische Reich ist eine einzigartige Erscheinung in der Weltgeschichte. Denken wir uns alle Länder in Vorderasien, in Nordafrika und im Süden, Westen und Nordwesten Europas vereinigt unter einem Haupt und regiert von der einen Stadt Rom aus. In Asien: Syrien mit Palästina, die nördlichen Teile von Arabien, ein Teil von Mesopotamien, Armenien, Kleinasien; in Afrika: Ägypten, die "Kornkammer" der alten Welt, die heutigen Länder Tunis und Tripolis, Algier und Marokko; in Europa: die pyrenäische Halbinsel, Italien mit seinen Inseln, die Balkanländer samt Griechenland, beträchtliche Teile von Ungarn und Österreich, ganz Süddeutschland, die Schweiz, der Rheinlauf von der Quelle bis zur Mündung, die Niederlande, Frankreich und England bis nach Schottland hinauf - alle diese Länder und Völker mit einer Seelenzahl von ungefähr 115 Millionen, waren von Rom unterworfen. Dieses Riesenreich war in 22 Provinzen eingeteilt, welche von den Abkömmlingen der alten römischen Geschlechter verwaltet wurden. Nachdem Jahrhunderte hindurch die römische Bürgerschaft um die Weltherrschaft gerungen und dann, nach Erreichung des Zieles, in blutigen Bürgerkriegen sich selbst zerfleischt hatte, war unter dem ersten Kaiser Augustus im Inneren des Reiches Friede geworden, und nur an den Grenzen im Norden und Osten waren die kriegsgeübten, trefflich disziplinierten Legionen mit Abwehr oder Bändigung wilder Völker beschäftigt. Die Länder Vorderasiens und Nordafrikas, welche heutzutage nach tausendjähriger Herrschaft des Islam gänzlich verödet sind, befanden sich damals im blühendsten Zustande. Sie waren reich an großen Handelsstädten und gewerbetreibender Bevölkerung. Wo jetzt armselige Dörfchen auf Schutt und Trümmern erbaut sind, ragten stolze Paläste, weite Amphitheater und herrliche Tempel vor, und es bewegte sich durch die Straßen geschäftig eine Menge, die nach Hunderttausenden zählte. Man denke an Korinth, Ephesus, Antiochia, Alexandria, Kyrene und Karthago, - Städte, von denen nur Alexandria noch Bedeutung für die Gegenwart hat. Das mittelländische Meer wimmelte von Schiffen. Handelskarawanen durchzogen auf zahlreichen, trefflich gebauten Straßen die Länder des Ostens. Die Römer waren Meister im Straßenbau; sie bauten für die Jahrhunderte, und heute noch sind vielerorts im Morgen- und Abendland ihre Straßen, Brücken und Wasserleitungen erkennbar. Auf den römischen Straßen konnte ein Reisender zu Wagen in 24 Stunden 15o – 300 km zurücklegen. Eine zu Regierungszwecken errichtete, die Beamten und amtlichen Sachen rasch und sicher befördernde Post, verband alle Teile des gewaltigen Reiches.

3. Zu dieser äußeren Verbindung durch Verkehrsmittel und Verkehrswege kam die innere, geistige Verschmelzung der Rom unterworfenen Völkerwelt, besonders durch die weite Verbreitung der griechisch – römischen Kultur und Sprache. Auf allen Gebieten des Lebens drangen römische und noch mehr griechische Sitten, Gebräuche und Einrichtungen durch. Auf den Münzen der verschiedensten Völker finden wir die Bilder der griechischen Götter. Die göttliche Verehrung des römischen Kaisers wurde Reichsreligion. Während in den westlichen Ländern die lateinische Sprache vorherrschte, hatte im Osten das Griechische viel mehr Eingang gefunden als bei uns in der Neuzeit das Französische. Auch die gottesdienstliche Sprache der Juden war außerhalb Palästinas in der Regel die griechische; daher sich denn auch der Apostel Paulus in seiner Missionstätigkeit und bei Abfassung seiner Schriften derselben bediente. – So waren damals die nationalen Schranken gefallen, die besonderen Sitten und Gewohnheiten, Sprachen und religiösen Anschauungen der alten Völker durchbrochen oder doch zurückgedrängt vor dem Gemeinsamen, das sie alle verband. Wenn irgendwann konnte man damals, als im Evangelium ein Heil und ein Heiland für die Welt verkündigt wurde, es auch verstehen, was eine Welt, eine Menschheit sei.

 

Kap. 2

Das jüdische Volk

1. In diesen Zeiten zunehmender Verschmelzung der Völker hat doch eines seine Eigenart aufs kräftigste zu bewahren verstanden: das jüdische Volk. Zwischen ihm und den übrigen Nationen, besonders den Griechen und Römern bestand eine tiefe Kluft. Der Jude verachtete die Heiden als unreine Hunde. Ihre Häuser sollte er ohne Not nicht betreten, auch ihre Speise nicht genießen: weder Milch noch Öl , weder Fleisch noch Brot. Jüdische Priester, die sich in römischer Gefangenschaft befanden, wollten lieber mit Feigen und Nüssen ihr Leben fristen, als vom Tische der Heiden sich nähren. Auch Wohltaten sollte man von den Götzendienern nicht annehmen; denn sie seien verderblich, wie das Gift der Vipern. – Wie weit man ging in Verachtung der heidnischen Religionsgebräuche, zeigt eine Anekdote, welche Josephus erzählt: Eine Schar von griechischen Soldaten, unter ihnen ein jüdischer Bogenschütze, zog nach Ägypten.. Unterwegs wollten sie erfahren, ob ihr Zug von Erfolg sein werde und baten einen heidnischen Priester, ihnen aus dem Fluge eines Vogels zu wahrsagen. Wie dies der jüdische Krieger hörte, spannte er seinen Bogen, schoss den Vogel herunter und erklärte den darüber erzürnten Genossen: Da der Vogelnicht einmal seine eigene Zukunft gekannt, hätte er die ihrige noch viel weniger anzeigen können.

2. Auf der anderen Seite war aber auch keine Nation im römischen Reiche so gehasst und verabscheut, wie die Juden. Griechische und römische Schriftsteller wetteifern in Ausdrücken der Verachtung gegen dieses gottlose und wüste Volk. Man glaubte die dumme Fabel, dass sie von Aussätzigen abstammten, welche aus Ägypten vertrieben, von Mose nach Kanaan geführt wurden. Man warf ihnen vor, dass sie im Tempel zu Jerusalem einen Eselskopf anbeteten. Man verspottete sie darüber, weil sie kein Schweinefleisch aßen, und weil sie jeden siebenten Tag der Woche, also den siebenten Teil ihres Lebens dem Müßiggang frönten. Man hielt es für Wahnsinn, dass sie sich am Sabbat gelegentlich lieber niedermachen ließen, als dass sie eine Waffe ergriffen hätten (obwohl Notwehr sonst auch am Sabbat erlaubt war). Die jüdische Religion, die Verehrung Gottes ohne Bilder und ohne Achtung auf Vorzeichen – außerhalb Jerusalems auch ohne Tempel, Altäre, Priester und Opfer – schien vielen, sehr aufgeklärten Römern nur ein schändlicher "Aberglaube" zu sein und den Namen der "Religion" gar nicht zu verdienen. So und ähnlich urteilten Cicero und Plinius, besonders aber Tacitus. „S ist ein den Göttern und Menschen verhasstes Geschlecht. Unheilig ist dort alles, was bei uns heilig ist; dagegen ist bei ihnen erlaubt, was uns ein Greuel ist.“ Der sonst so gerechte und weitsichtige Tacitus, der das Leben und die Taten der schlimmsten Feinde des römischen Reiches, der deutschen Stämme des Nordens mit unverkennbarer Begeisterung geschildert hat, weiß doch über die Juden fast nichts als Verächtliches zu berichten! Wenn wir daran denken, und dabei erwägen, dass unser Heiland diesem Volke entstammte und somit auch für uns das Heil von den Juden gekommen ist, müssen wir mit Paulus sagen: "Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, auf dass Er die Weisen zu Schanden machte, was etwas ist".

3. Dennoch hatte das jüdische Volk damals eine große Macht und einen weitreichenden Einfluß im römischen Reiche. Nicht erst von der Zerstörung Jerusalems an (70 n. Chr.), sondern schon zur Zeit Jesu war es zum großen Teile zerstreut über die Länder und über die Küsten und Inseln des mittelländischen Meeres. In den meisten größeren Städten hatte die Juden ihre Niederlassungen und Synagogen und lebten daselbst zu Tausenden als Handwerker und Kaufleute. "In Rom allein hat es 33.000 Juden gegeben, in ganz Ägypten über das Zehnfache. In Alexandria waren zwei von den Stadtbezirken vorwiegend von Juden bewohnt. Nach der Angabe des Vaters Jesus machten sie im Jahre 30, mit ihren 5.753.000 Seelen im ganzen römischen Reich 5% der Bevölkerung aus. Und an den Grenzen desselben, in Mesopotamien und darüber hinaus, in Persien bis jenseits des Kaspischen Meeres lebten ihrer Millionen. Woher ihr große Zahl? So unglaublich es klingt, ist es doch Tatsache, dass sie sich nicht nur durch den Überschuss der Geburten über die Todesfälle, sondern auch durch zahlreiche Übertritte vermehrten. Trotz all dem Hasse und der Verachtung, welchen die Juden ausgesetzt waren, ließen sich doch ganze Scharen gebildeter und ungebildeter Heiden durch Taufe und Beschneidung in die Volksgemeinschaft Israels aufnehmen (Proselyten). So zahlreich waren die Angehörigen aller Völker und Stände, nicht zum wenigsten auch die vornehmen römischen Herren und Damen, welche ihren Seelenfrieden beim Tempel zu Jerusalem und im Gehorsam gegen Israels Gesetz suchten, dass ein jüdischer Schriftsteller zur Zeit Jesu (Philo) behaupten konnte: „Alle zieht das göttliche Gesetz heran und bekehrt sie, Hellenen und Barbaren, Bewohner des Festlandes und der Inseln, Völker des Ostens und Westens, Europäer und Asiaten, die ganze bewohnte Welt von einem Ende zum anderen.“ – Aber auch davon abgesehen, war der Einfluss der Juden groß. Wollte man Geld – man fand es beim jüdischen Bankier; begehrte man Zauber – man lief zum jüdischen Beschwörer, der besonders kräftige Bannsprüche besaß; suchte man Wahrheit und Gewissheit über göttliche Dinge – man ging zum jüdischen Lehrer und ließ sich von ihm einführen in die heiligen Schriften. Weit verbreitet war damals auch in der heidnischen Welt die Weissagung von einem großen König, der aus Judäa aufstehen und der jammervollen Welt Gerechtigkeit und Frieden bringen werde. Der römisch Dichter Virgil hat diese kommende selige Erntezeit mit Worten geschildert, die er der Weissageung der Sybille von Erithräa entlehnt hat.

 

Kap. 3

Die politischen und sozialen Zustände in Palästina

1. Gehen wir nun über auf das politische, soziale und religiöse Leben dieses merkwürdigen, einzigartigen Volkes zur Zeit Jesu und im Lande Palästina. Fragen wir uns: „Welches waren seine Regenten, seine Priester und seine Lehrer?“

2. Werfen wir einen Blick ins Neue Testament. Da begegnen wir überall Spuren römischer Herrschaft. Wir hören von einem römischen Landpfleger Pontius Pilatus, in dessen Richthaus Jesus geführt wurde, und der – wiewohl nach langem Sträuben – das Todesurteil über Ihn bestätigte. Wir hören von den Soldaten des Landpflegers, welche den Herrn kreuzigten, Seine Kleider unter sich verteilten und hernach Sein Grab bewachten. Die Apostelgeschichte erzählt uns von einem italischen Hauptmann Cornelius zu Cäsarea und von den Verhören, welche Paulus in derselben Stadt vor den Landpflegern Felix und Festus zu bestehen hatte.

3. In der Tat war zehn Jahre nach dem Tode des durch die Weihnachtsgeschichte uns wohl- und doch übelbekannten Königs Herodes (des "Großen") der südliche und mittlere Teil Palästinas, Judäa mit Samaria, völlig zur römischen Provinz geworden und wurde von einem Prokurator oder Statthalter (Landpfleger) des römischen Kaisers verwaltet, während der Norden und Osten des Landes, Galiläa und Peräa, noch über zwanzig Jahre unter die Söhne des Herodes, die sogenannten Vierfürsten Antipas (den Mörder Johannes des Täufers) und Pilippus verteilt blieb. Der Prokurator hatte das Kommando über sämtliche Truppen, die in den zahlreichen Festungen der Provinz garnisonieren – Jerusalem allein hatte 1.000 Soldaten, die in der Burg Antonia zunächst dem Tempelplatz lagen, Cäsaräa, die Residenz des Statthalters, 3.000 bis 5.000. Seine Sache war ferner die Verwaltung der Finanzen, zeitweise auch der Eintrieb der Steuern. Endlich war er auch der oberste Richter im Lande; er allein hatte das Recht über Leben und Tod, ohne seine Bestätigung durfte – wie wir aus der Leidensgeschichte ersehen – kein Todesurteil vollzogen werden.

4. Innerhalb dieser Schranken aber genoss das jüdische Volk ein ziemliches Maß an Freiheit, nach seinen eigenen Gesetzen zu leben. Seine nationale Obrigkeit war der Hohe Rat, der uns ebenfalls aus den Evangelien bekannt ist. Er bestand aus 71 Mitgliedern, den Vorsitz führte der jeweilige Hohepriester. Ihm gehörten die Söhne der vornehmsten Priesterfamilien Jerusalems an, die Männer, aus deren Mitte damals die Hohenpriester erwählt zu werden pflegten; ferner die berühmtesten Schriftgelehrten oder Gesetzeskundigen (Theologen und Juristen zugleich), die beim Volke unbedingtes Ansehen genossen; endlich die Häupter der großen, alteingebürgerten, nicht priesterlichen Familien, die sog. "Ältesten". Dieser hohe Rat war keineswegs, wie man oft gemeint hat, bloß eine geistliche Behörde, ein Kirchenrat, sondern für Judäa zugleich die oberste bürgerliche Behörde, welche das zu Recht bestehende mosaische Gesetz auszulegen und über dessen Vollziehung zu wachen hatte – und die höchste richterliche Instanz im Lande, zur Erledigung all derjenigen Streitsachen und Strafklagen, die von den niederen örtlichen Gerichten nicht entschieden werden konnten. Dies alles natürlich unter der Oberaufsicht des Statthalters, der nach Gutdünken eingreifen durfte. – Auch in Galiläa hatte jede größere Ortschaft ihre eigene, aus sieben Köpfen bestehende Gerichts- und Verwaltungsbehörde, die Städte dagegen einen Rat von 23, dem auch die Behörden der umliegenden Dörfer untergeordnet waren. Daneben gab es im Norden und Osten Palästinas eine Anzahl "freier" Städte, welche als "Bundesgenossen" des römischen Reiches Freiheit von Reichssteuern hatten und unmittelbar unter der Oberhoheit des Kaisers standen.

5. Ein größeres oder geringeres Maß von Selbstverwaltung und eigener Gerichtsbarkeit war übrigens vielen Städten und Ländern des Reichs gewährt. Aber auch in anderen Beziehungen nahm die kaiserliche Regierung unverdient viel Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten des jüdischen Volkes. Rücksicht auf das Sabbatgebot: um seinetwillen wurden die Juden nicht zum Militärdienst gezwungen. Rücksicht auf das Bilderverbot: sie erhielten das Recht, in Judäa Kupfermünzen ohne das Bildnis des Kaisers zu prägen. Rücksicht auf den Gottesglauben überhaupt: während nämlich überall im römischen Reiche Altäre und Statuen der Kaiser errichtet wurden, um ihnen als Götter Opfer und Anbetung darzubringen, blieb das jüdische Volk von dieser Abgötterei der Staatsreligion gänzlich verschont. Ja, soweit ging die Rücksichtnahme , dass im Jahre 37 nach Christus der römische Feldherr Vitellius, der mit einem Heere aus dem Norden des Landes nach Petra (südlich vom toten Meere) ziehen sollte, einen beträchtlichen Umweg um Judäa herum machte, um ja nicht die jüdische Empfindlichkeit durch den Anblick der römischen Feldzeichen, Adler und Kaiserbilder zu verletzen.

6. Wenden wir uns nun zum wirtschaftlichen Zustande Palästinas. Der nördliche Teil desselben, Galiläa, war damals ein blühendes Land, bedeckt von Städten und Dörfern. Es mochte etwa halb so groß sein als der Kanton Graubünden. Auf diesem beschränkten Raume soll es nach der Angabe des Josephus 204 Städte und große Dörfer gegeben haben mit einer Bevölkerung von mehr als 3.000.00 Seelen. Diese Angabe ist sicherlich übertrieben. Aber gewiss war es eines der dicht bevölkertsten Länder der Erde. Da gab es kein Stücklein Boden ohne Besitzer. Wiesen waren selten, das meiste war zu Ackerland umgepflügt. Und diese Äcker waren trefflich angebaut mit Weizen und Mais, Flachs und Baumwolle. Besonders die Landschaft am Westufer des galiläischen Meeres, die Ebene Genesareth, wo Jesus so oft Sein Volk um Sich versammelt und die Botschaft vom Königreich Gottes verkündigt hat, war wie ein üppiger Garten von paradiesischer Schönheit. Der See war reich an Fischen. Am Südende desselben, zu Tarichäa, wurde ein einträglicher Fischhandel betrieben. Das Land war bewohnt von einer tätigen, intelligenten Bevölkerung. Auch Handwerk und Industrie (besonders Leinenweberei) waren entwickelt. Im Gegensatz zu den Griechen und Römern war bei den Juden die Handarbeit so hoch geehrt, dass selbst die Gelehrten imstande sein sollten, ein Handwerk zu betreiben. Mehr als hundert angesehene Rabbiner führen im Talmud Beinamen, die ihr Handwerk bezeichnen, wie Schuster, Schneider, Bäcker, Baumeister, Totengräber, Walker, Schmied, Töpfer, Weber (Paulus) usw. ein rabbinischer Spruch lautet: „Wer seinen Sohn kein Handwerk erlernen lässt, der tut, als ob er ihn zum Straßenräuber machen wollte.“

7. In mancher Hinsicht verschieden von Galiläa war der Zustand Judäas. Diese Landschaft war viel weniger fruchtbar, sondern rau, gebirgig. Liebliche, reich gesegnete Gegenden, wie Bethlehem Ephrata – die "Fruchtbare" – waren Oasen in der Steinwüste. Dagegen bildeten die Zehntausende von Schafen, die auf den Triften des Gebirges Juda weideten, das natürliche Vermögen des Landes. Die wichtigste und allezeit überreich fließende Einnahmequelle Judäas aber war der Tempel zu Jerusalem, zu dem jahraus, jahrein Millionen von Pilgern die Schätze aller Länder brachten.

8. Dennoch war die ökonomische Lage des Volkes in beiden Landesteilen keine günstige. Es war ausgesogen von Steuern, erdrückt durch Lasten aller Art. Bald nach dem Tode des Kaisers Augustus begab sich deshalb eine Gesandtschaft aus Syrien und Judäa nach Rom zu dessen Nachfolger Tiberius, schilderte ihm die missliche Lage dieser Provinzen und bat um Erleichterung der Lasten. Wie stand es denn mit den Abgaben? Steuerfrei waren im römischen Reiche die römischen Bürger und die Bundesgenossen, also vor allem die Bewohner Italiens. Die Untertanenländer dagegen hatten die Verwaltungskosten und Kriegslasten des Reiches zu tragen. Es gab damals zweierlei Staatssteuern: 1. eine Kopf - oder Vermögenssteuer, welche jede weibliche Person vom 12, jede männliche vom 14. Jahre bis ins 65. zu leisten hatte, und die 1 % des Vermögens betrug; 2. eine Einkommens – und Grundsteuer: 10 % vom Jahresertrag des Getreides und 20 % - also ein Fünftel – von dem der Weinberge und Obstgärten gehörten dem Staate. Dazu kamen noch Kornlieferungen für das römische Heer und für die Stadt Rom selbst, wo immerfort in die hunderttausend Müßiggänger, zu Cäsars Zeiten waren es sogar 320 000! – auf Staatskosten gefüttert und dadurch bei guter Laune erhalten wurden. Außerdem musste die Provinz für den Unterhalt ihres Statthalters und dessen Beamten aufkommen, welche forderten und nahmen, was ihnen beliebte. Die Steuern wurden meist von den Statthaltern eingetrieben, zeitweise aber, besonders in früheren Zeiten, zu Rom für je fünf Jahre an die Meistbietenden verpachtet. Das waren kapitalkräftige Gesellschaften, welche durch rücksichts- und erbarmungslose Ansetzung der Steuerschraube natürlich nicht bloß die ausgelegte Pachtsumme, sondern auch einen beträchtlichen Reingewinn aus den Provinzen zu erpressen suchten. Ähnlich ging es mit den Zöllen: auch sie wurden verpachtet. Da gab es Grenzzoll, Brückenzoll, Wegzoll, Torzoll. Mancherorts mussten die Waren doppelt und dreifach verzollt werden, so oft sie nämlich eine Landesgrenze überschritten. Dadurch wurden viele Dinge ungebührlich verteuert, oder der Produzent kam zu nichts. Die Höhe des vorgeschriebenen Zolles war dem gemeinen Manne meist unbekannt, denn die Tarife wurden nicht veröffentlicht. Überforderung war daher ganz gewöhnlich. Die hochgestellten adeligen Zollpächter wollten ein glänzendes Geschäft machen, und ihre niedrigen Angestellten ahmten ihnen nach: Das waren die Zöllner, von denen wir so oft in den Evangelien lesen. Wir verstehen daraus die Verachtung, die für den rechtschaffenen Juden auf dem Zöllnergewerbe lag. Durchwegs werden in den jüdischen Schriften die Zöllner und Räuber auf gleiche Stufe gestellt. Von Räubern und Zöllnern soll man kein Almosen annehmen; Räuber und Zöllnern zu belügen gilt als erlaubt. Wie groß muss die Schmach unseres Heilandes in den Augen Seines Volkes gewesen sein, wenn Er "der Zöllner und Sünder Freund" genannt wurde, wenn's von Ihm hieß: „Dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen!“ – Im Übrigen war Barmherzigkeit auch gegen Fehlbare, Gnade für Recht ergehen lassen, besonders gegenüber Volksgenossen, eine von den Schriftgelehrten oft wiederholte Forderung.

9. Zu den Plagen des jüdischen Volkes – überhaupt vieler Völker des römischen Reiches – gehörten insbesondere auch die Statthalter oder Prokuratoren. Es waren zum großen Teil (immerhin mit rühmenswerten Ausnahmen) habsüchtige, genusssüchtige und ruchlose Gesellen ohne alles Pflichtbewusstsein, die sich für das langweilige Leben in der Provinz, fern von den Freuden der Kaiserstadt, durch maßlose, kaum glaubliche Erpressungen zu entschädigen suchten. Wie uns doch von einem Statthalter Syriens (Gebinius) berichtet, dass er während seiner dreijährigen – sage dreijährigen – Amtsführung über 100 Millionen Denare für sich erpresste (1 Denar = 70 Cents). Ein anderer, der Feldherr Crassius, raubte aus dem Tempelschatze zu Jerusalem Gold und Kostbarkeiten im Werte von 95 Millionen Franken, die er in seine unermesslich weite Tasche steckte. Der Kaiser Tiberius hatte deshalb den guten Grundsatz, die Statthalter möglichst lange auf den gleichen Posten zu belassen; sie machten es, sagte er, wie die Fliegen auf dem Körper eines Schwerverwundeten: Wenn sie sich voll gesogen hätten, würden sie nachlassen mit ihren Erpressungen, wogegen neue immer wieder von vorne anfingen.

10. Besonders hatte der Bauernstand unter der Grundsteuer zu leiden; denn die Beamten machten willkürliche Schätzungen und bedrückten durch hohe Steueransätze diejenigen, deren Arbeitsfleiß am meisten zum Wohlstand des Landes beitragen konnte. Das Schuldenbäuerlein hatte böse Zeit. An Wucherern, die ihm Vorschüsse zu hohen Zinsen gewährten, fehlte es auch nicht. Wir hören bisweilen etwa von diesen unglückseligen Verhältnissen aus dem Evangelien, besonders aus den Gleichnissen Jesu. Auch einer der Apostel (Jakobus) klagt wider die hartherzigen Reichen: [Jak. 5,4-5] «Siehe, der Arbeiter Lohn, die euer Land eingeerntet haben, der von euch abgebrochen ist, der schreiet, und das Rufen der Ernter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth, Ihr habt wohl gelebt auf Erden und eure Wollust gehabt und eure Herzen geweidet auf den Schlachttag».

11. So litt das Volk schwer unter der Habgier der Prokuratoren, unter der Willkür der Zoll- und Steuerbeamten und unter dem Drucke der Wucherer, welche die Verarmten ins Elend trieben und die verschuldeten Güter an sich rissen. – Nicht erst heute, sondern schon damals hat es soziale Fragen gegeben, und ein sozialer Reformator wäre gewiss von vielen mit offenen Armen empfangen worden.

12. Dennoch waren es nicht die sozialen Missstände, sondern vielmehr die religiösen und nationalen Interessen, welche das jüdische Volk in seiner Tiefe bewegten. Willig trug es ja ebenso große Lasten für den Tempel, den Kultus, die Priesterschaft. Aber dass das heilige Volk Jehovas sollte untertan sein den Weltvölkern, dass das gepriesene Land, das Eigentum des Herrn, seine Erträgnisse den Heiden, den Götzendienern liefern sollte, das schien dem jüdischen Manne, auch dem gläubigen Galiläer unfassbar. Allen Ernstes, und nicht nur um Jesus zu versuchen (Matth. 22,17) wurde damals die Frage diskutiert: "Ist's recht, dass wir dem Kaiser Steuern zahlen?" Und die Antwort lag nahe: Nein, es ist nicht recht; denn unser Land und Volk gehört Jehova, dem König der ganzen Erde. – Als darum im Jahre 7 nach Christo vom römischen Statthalter Syriens (Cyrenius) eine allgemeine Schätzung des Grundes und Bodens angeordnet wurde, um daraus die Grundsteuer bestimmen zu können, erhob ein Mann aus Galiläa Judas von Gamala, die Fahne des Aufruhrs und rief sein Volk zum heiligen Kampfe für Jehovas Rechte auf. Der Aufstand wurde von römischen Truppen niedergeworfen. Aber von dieser Zeit an glimmte das Feuer der Empörung unter der Asche fort – sechzig Jahre hindurch bis zum letzten entsetzlichen Kampfe mit der Römermacht. Aus den Anhängern des Galiläers Judas bildete sich die Partei der Zeloten (Eiferer), welche mit Waffengewalt dem Messias und Seinem Reiche Bahn brechen und Israel erlösen wollten von der Fremdherrschaft.

13. Es ist sehr merkwürdig, dass gerade zu dieser Zeit Jesus Christus erschienen ist, um Seinem tief erregten Volk den Weg zum Frieden zu weisen. Er hatte das innigste Mitgefühl mit den Leiden Seines Volkes: da er die Menge sah, jammerte ihn desselben; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Wir kennen Seine Tränen über Jerusalem, das die Zeit der Gnade Gottes nicht erkannte. Wir kennen auch Seine Einladung: «Kommet her zu Mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, Ich will euch erquicken!» Aber im Gegensatz zu jenen Gewaltmenschen wie Judas von Gamala, seinen Söhnen und Anhängern, ist Jesus nicht aufgetreten als nationaler Freiheitsheld; nicht auf stolzem Streitross ist Er in Jerusalem eingezogen, sondern so, wie der Prophet Sacharia geweissagt: [Zach. 9,9] «Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitend auf einem Esel, auf dem jungen Füllen der Eselin». Auch die Rolle eines sozialen Reformators, die man Ihm heutzutage zuteilen möchte, hat Er keineswegs übernommen; Er hat nicht einmal der Bitte eines Mannes willfahrt, der Ihn als Richter im Erbschaftsstreite anrief (Luk. 12,13-14). Er hat äußerlich alles beim Alten gelassen. Aber Gotteskräfte hat Er durch Sein Leben und Sterben wirksam gemacht zur Erneuerung und Wiedergeburt der Menschenseelen. Und diese Gotteskräfte sollen weiter wirken, eine neue Menschheit, eine neue Welt schaffen, bis dass erfüllt sein wird sein Wort: «Siehe, ich mache alles neu!»

 

 

Kap. 4

Der Tempel, seine Tribute und Priesterschaft

1. Gehen wir über zum religiösen Leben des jüdischen Volkes. Der Mittelpunkt desselben war die Stadt Jerusalem und in ihr der heilige Tempel. Dieser Tempel, zuerst von Salomo erbaut, dann von Nebukadnezar zerstört, nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft notdürftig aus Holz wieder errichtet, war von Herodes dem Großen mit verschwenderischer Pracht neu aufgebaut worden. Nach jüdischer Tradition, welche große, runde Zahlen liebt, hatten 10.000 Arbeiter das Material herbeizuführen; 1.000 Priester, in Zimmermanns- und Steinmetzarbeiten unterwiesen, bauten das eigentliche Tempelhaus; 18.000 Handwerker waren auf Jahre hinaus beschäftigt und bekamen ihren Lohn täglich ausbezahlt. Der König hatte das Werk ums Jahr 20 vor Christi Geburt begonnen, vollendete es aber nicht; achtzig Jahre wurde mit Unterbrechung daran gearbeitet, bis der herrliche Bau unter der Statthalterschaft des Albinus seinen Abschluss fand (62-64 nach Christo) – also kurz vor der Zerstörung durch die Römer. "Wer nicht den Bau des Herodes gesehen, hat nie etwa Schönes gesehen", lautet ein damaliges Sprichwort.

2. Denken wir uns Mauern über Mauern, aus gewaltigen 16-20' langen Quadern bestehend, aus der Tiefe Jerusalems aufgeführt und so eine künstliche Terrasse über dem Berge Moriah (dem ursprünglichen Tempelhügel) geschaffen. Am Rande dieser Terrasse, welche nahezu die Form eines Rechtecks hat, erheben sich Säulenhallen aus weißem Marmor, welche den weiten Tempelplatz, den so genannten "Vorhof der Heiden", umgeben. Auf dem nördlichen Teile dieses Platzes liegt 21 m höher eine zweite burgähnliche Terrasse, von doppelter, hoher Mauer umgeben; innerhalb derselben die Vorhöfe der Weiber und der Männer - deren Betreten den Heiden bei Todesstrafe untersagt ist – und zu innerst der Vorhof der Priester. Von hier führt eine Treppe hinauf zum eigentlichen Tempelhause, das aus dem feinsten Marmor erbaut ist, dessen Dach und Außenwände von Gold strahlen. Gegenüber der breiten, prächtigen Vorhalle des heiligen Hauses, mitten im Priestervorhofe, erhebt sich der große Brandopferaltar. Er ist aus unbehauenen Steinen errichtet und hat die Form einer abgestumpften Pyramide; seine Höhe beträgt 8 m, jede Seite seiner Grundfläche ist 17 m lang. Hier, an dieser hochheiligen Stätte, wurden die täglichen Morgen- und Abendopfer vor Jehova gebracht, und in den Festzeiten waren die Opfer so zahlreich, dass Tag und Nacht die Flamme vom Altar aufstieg

3. In diesen Festzeiten, zu Passah- , Wochen- und Laubhüttenfeste, zog die ganze Mannschaft Israels, zum Teil mit Weibern und Kindern , hinauf nach Jerusalem, so dass im jüdischen Lande viele Dörfer und Städte fast menschenleer waren. Nach einer Angabe des Josephus, der den Mund gern etwas voll nimmt, lagerten in solchen Zeiten gegen drei Millionen männlicher Gäste in der heiligen Stadt und den Dörfern der Umgebung. Aber nicht nur zu den großen Jahresfesten, sondern das ganze Jahr hindurch kamen aus allen Gegenden des Landes, ja aus allen Teilen des römischen Reiches die Pilger zu Tausenden, um ihre Opfergaben und Weihgeschenke zum Tempel zu bringen. Und nicht nur die Priesterschaft, sondern ganz Jerusalem und die Bevölkerung des umliegenden jüdischen Landes lebte von der Verehrung der heiligen Stätte, die des Judäers Freude und Wonne, sein Stolz und sein Abgott war. Der Tempel zu Jerusalem galt für den reichsten ganz Asiens; selbst römische Kaiser sandten ihre Weihegaben.

4. Und nun die Priesterschaft dieses Tempels. Nach der Angabe des Vaters Jesus lebten zur Zeit Jesu 8.000 Priester in Jerusalem und 8.000 in den Städtchen des jüdischen Landes. Dazu kamen noch die Leviten, die Sänger, die Torhüter, die Tempeldiener usw. Die Priester, die Nachkommen Aarons, sollten ein hochheiliger Stand sein. Darum wurde gar sehr auch auf körperliche Reinheit und Fehllosigkeit gehalten; 142 körperliche Fehler und Gebrechen wurden namentlich aufgeführt, welche einen Nachkommen Aarons vom Dienste im Heiligtum ausschließen konnten. Die gesamte Priesterschaft war in 24 Dienstklassen eingeteilt. An ihrer Spitze stand der Hohepriester. Er war nicht nur der oberste Priester, der für sein ganzes Volk vor Gott stehen sollte und allein das Recht hatte, einmal im Jahre, am großen Versöhnungstage, das Allerheiligste mit dem Blute des Sühnopfers zu betreten, sondern er war zugleich auch der legitime, weltliche und geistliche Fürst über Israel, seitdem es seine nationalen Könige aus Davids Haus verloren hatte. Mit tiefer Ehrfurcht beugte sich das Volk vor dem Stellvertreter und Gesalbten Gottes, der auf Lebenslänge sein hohes Amt ausüben und es auf seinen ältesten Sohn vererben sollte.

5. Die Einkünfte der Priesterschaft waren mannigfaltig. Ihr wurden die Erstlinge der Erträgnisse des Landes dargebracht. Weizen, Gerste, Weintrauben, Honig, Feigen, Oliven und Granatäpfel. Ihr gehörte alljährlich das Beste, der "Abhub" der Feld- und Baumfrüchte, etwa 1/50 der Ernte. Nach Wegnahme dieser beiden Abgaben wurde erst noch der "Zehnte" abgesondert "von allem, was zur Speise dient und gehütet wird und sein Wachstum aus der Erde empfängt", und in Natur- oder in Geldwert nach Jerusalem gebracht. Der Zehnte war ursprünglich für die Leviten bestimmt, wurde aber diesen von den Priestern gewöhnlich vorenthalten. Zu diesen regelmäßigen, alljährlich wiederkehrenden kamen noch eine Menge gelegentlicher Abgaben; die männliche Erstgeburt des Viehs; eine Auslösungssumme für jeden erstgeborenen Knaben (im Betrage von ca. 16 Fr.); von jedem Tier, das zum Hausgebrauch geschlachtet wurde, drei Teile; von den Dankopfern zwei Teile; von den Brandopfertieren das Fell, die Sünd- und Schuldopfer ganz, die Schaubrote, ein Abhub von jedem Teig, der gebacken wurde, eine Abgabe von jeder Schafschur usw. Kurz, die Priester hatten nicht Not zu leiden, sie waren wohl der bestdotierte Stand im ganzen Lande.

6. Allein, wie bei solchem Ansehen und Reichtum nicht anders zu erwarten, hatte sich die Korruoption auch in die Reihen der Priesterschaft eingeschlichen und entfremdete ihr, und ganz besonders den höchstgestellten Klassen derselben, je länger je mehr die Herzen des Volkes. Einige priesterliche Familien Jerusalems hatten sich im Laufe der Zeit eine Sonderstellung errungen; sie hatten die wichtigsten Tempelämter an sich gerissen und beanspruchten den größten Teil der für den ganzen Stand bestimmten Einkünfte. Während sie im Überflusse schwelgten, mussten die auf dem Lande wohnenden Priester mit dem Geringsten vorlieb nehmen. Ja, kurze Zeit vor der Zerstörung Jerusalems, nahmen die hohenpriesterlichen Familien den Zehnten mit Gewalt für sich weg, indem sie nach Einbringung desselben die Vorratshäuser überfallen ließen. So bestand ein Priesteradel, der keinen Sinn, kein Verständnis mehr hatte für das patriotische Fühlen und für die Messiashoffnung des Volkes und kein Erbarmen mehr mit dessen Not und Wunden. Man buhlte um die Gunst des Herodes und seiner Söhne, und des römischen Kaisers und seiner Statthalter, das waren die Sadduzäer, die in den Evangelien mehrmals, aber aus verschiedenen Gründen nicht oft genannt sind; und untereinander hassten und befehdeten sich die hohen, aristokratischen Priesterfamilien so sehr, das es unter ihren Anhängern und Söldnern zu blutigen Kämpfen in den Straßen Jerusalems kam. Von Erblichkeit des Hohenpriestertums konnte unter diesen Umständen keine Rede sein. Es waren zur Zeit Jesu besonders vier Familien, die sich um diese höchste Würde aufs heftigste stritten. In den letzten hundert Jahren vor der Zerstörung regierten nacheinander 28 Hohepriester. Herodes der Große setzte in den 33 Jahren seiner Regierung deren fünf ein und wieder ab. Noch rücksichtsloser verfuhren einige römische Statthalter. Von einem derselben berichtet Josephus: "Kaiser Tiberius sandte Valerius Gratus ins jüdische Land, welcher den Hohenpriester Hannas absetzte und Ismael ben Phabi an seine Stelle verordnete. Bald verstieß er auch diesen und übertrug Eleazar, dem Sohne Hannas, diese Würde. Ein Jahr später nahm er sie ihm wieder und gab sie Simon, Kaniths Sohn. Dieser hatte sie kaum ein Jahr inne gehabt, so musste er sie an Joseph, genannt Kaiphas, abtreten. Danach ging Gratus wieder nach Rom, nachdem er elf Jahre in Judäa gewesen. Sein Nachfolger wurde Pontius Pilatus."

7. Kaiphas und Pontius Pilatus sind uns bekannte Namen. Sie bezeichnen die tiefste Schmach des unglücklichen, jüdischen Volkes. Es war die Zeit, da Johannes in der Wüste und am Jordan auftrat, um mit seiner Bußpredigt dem rechten, von Gott gegebenen Hohenpriester und König, Jesus Christus, den Weg zu bereiten. Die höchsten Ideale Israels, Gottesherrschaft und Priestertum, waren mit Füßen getreten; der Greuel der Verwüstung stand an heiliger Stätte. Die aber im Geiste der alten Propheten dachten und fühlten, die "Stillen im Lande", warteten auf die Erlösung", den Trost Israels".

 

 

Kap. 5

Synagogen und Lehrer

1. Je mehr die Spitzen der Priesterschaft in Jerusalem sich gegen die Gedanken, Erwartungen und Hoffnungen Israels verschlossen, je mehr das Ansehen der hohepriesterlichen Würde durch die Unwürdigkeit der Träger untergraben wurde, um so eifriger wandte sich das Volk seinen Lehrern und Synagogen zu. Hier – und nicht mehr im Tempel – lag zur Zeit Jesu der eigentliche Schwerpunkt des jüdischen Lebens.

2. Der Tempel zu Jerusalem war und blieb freilich das Haus der Anbetung Gottes im höchsten Sinne des Wortes. Daneben aber war in den letzten Jahrhunderten vor Christi Geburt die Schule oder Synagoge aufgekommen als Stätte der Sabbatsversammlung und gemeinsamen Unterweisung. Diese Unterweisung aber bestand hauptsächlich in der Vorlesung und Besprechung des mosaischen Gesetzes. Das Gesetz Gottes war der eine große Gegenstand aller Lehre im jüdischen Volke. Um seinetwillen wurden schon zur Zeit Christi Elementarschulen in den Gemeinden errichtet und wurde einige Jahrzehnte später sogar der Versuch unternommen, den Jugendunterricht obligatorisch zu machen: bei jeder Synagoge sollte eine Knabenschule bestehen, jeder junge Israelite sollte, um das Gesetz studieren zu können, lesen lernen und zu diesem Zwecke mit sechs oder sieben Jahren zur Schule gebracht werden. Die Schulung der Mädchen dagegen war verpönt. „Wer seine Tochter im Gesetze unterrichtet, unterrichtet sie in Torheit.“ Der Schulunterricht war auch die häusliche Unterweisung, zu der die Eltern verpflichtet waren, bestand im Lesen und Einprägen des Gesetzes und der mit ihm verbundenen heiligen Geschichte. – Viel wichtiger aber als die Knabenschule war das Lehrhaus für die Erwachsenen, das in unserer deutschen Bibel auch gewöhnlich "Schule" heißt, besser jedoch Synagoge oder "Versammlungshaus" genannt wird.

3. In allen Städten und Dörfern, wo auch nur einige hundert Juden beisammen wohnten, gab es eine oder mehrere Synagogen, nach einer (der Wahrheit entsprechenden) jüdischen Sage hat es in Jerusalem deren 480 gegeben. Es waren meist einfache, schmucklose Säle auf Hügeln, an freien Plätzen oder Straßenecken. Da versammelte sich die Gemeinde am Sabbat (auch am Montag und Donnerstag, den Markt- und Gerichtstagen), und zwar am Morgen, wenn auf dem Altare zu Jerusalem das Morgenopfer brannte, und dann am Nachmittag wieder, wenn dort das Abendopfer dargebracht wurde. Jede Synagoge hatte ihren Vorsteher (den "Obersten der Schule",) der jedoch nicht Priester oder Prediger war, sondern nur für die Ordnung und das Geziemende in und außer dem Gottesdienste zu sorgen hatte.

4. Der Morgengottesdienst begann mit dem Glaubensbekenntnis, das im Chor gesprochen wurde: "Höre, Israel, Jehova, dein Gott ist ein einiger Herr, und du sollst Jehova, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen" usw. Dann trat der Vorbeter auf; es war dies kein ständiger Beamter, sondern ein beliebiges Gemeindeglied, das vom Vorsteher dazu aufgefordert wurde. Zum Gebete stand die Gemeinde, das Angesicht in der Richtung nach Jerusalem gewandt und wiederholte laut das "Amen" oder gewisse, oft wiederkehrende Worte. Auf das lang gedehnte Gebet folgte die Schriftvorlesung. Die fünf Bücher Mose – das "Gesetz" – waren zu diesem Zwecke in 154 große Abschnitte (die sog. "Paraschen" ) eingeteilt, von denen je einer der Reihe nach an jedem Sabbat verlesen werden sollte, so dass die Gemeinde in drei Jahren das ganze "Gesetz" zu hören bekam. War ein Vers hebräisch gelesen, wurde er sofort in die damals herrschende aramäische – oder außerhalb Palästinas, in die griechische Sprache übersetzt. In diese Gesetzesvorlesung teilten sich mehrere (bis sieben) der anwesenden Männer. Daran schloss sich die Vorlesung eines Abschnitts aus den "Propheten" (mit Einschluss der geschichtlichen Bücher), der frei gewählt werden konnte. Endlich folgte ein erbaulicher Vortrag, eine Predigt über das Vorgelesene, welche wieder nicht vom Synagogenvorsteher, sondern von irgend einem würdigen und verständigen Manne, am besten von einem Rabbi oder Schriftgelehrten gehalten wurde. Berechtigt zum Predigen war jeder Israelite von dreißig Jahren, wie wir aus den Evangelien erkennen, die uns oft erzählen, dass Jesus in den Synagogen auftrat und lehrte. Den Schluss des Gottesdienstes bildete der über die Gemeinde ausgesprochene Segen. Ähnlich, nur einfacher und freier gestalteten sich die Nachmittagsversammlungen. Da wurden die verschiedenen Ansichten über eine Schriftstelle hin und her erörtert, es kam zu Zwiegesprächen zwischen etwa anwesenden Schriftgelehrten unter lebhafter, oft laut werdender Beteiligung der Gemeinde. Diese Disputationen dauerten oft bis in den dunklen Abend.

5. So war die Synagoge die Gesetzesschule des jüdischen Volkes. Hier erwarb sich der gläubige Israelite eine genaue Kenntnis des väterlichen Gesetzes, das für ihn der Inbegriff aller Offenbarung Gottes war. Während andere Völker Rechtsgelehrte haben mussten, prahlt Josephus, wisse im jüdischen Hause jede Magd aus dem Gottesdienste, was Mose für jeden einzelnen Fall im Gesetz verordnet habe.

6. Ganz richtig ist das freilich nicht. Auch die Juden hatten ihre Rechtsgelehrten. Es waren die Schriftgelehrten oder Rabbiner, die "Meister in Israel". Sie pflegten die Wissenschaft des Gesetzes und hatten die Aufgabe, die einfachen und kurz lautenden Verordnungen des Gesetzes Moses, anwendbar zu machen auf alle einzelnen Fälle und Vorkommnisse des Lebens. Das sind die Männer, von denen uns in den Evangelien so oft erzählt ist, welche an der Stirn und am Arme Gebetsriemen, d. h. mit Bibelworten beschriebene Pergamentstreifen ("Denkzettel") trugen, in den Häusern bei Tische und in den Synagogen gern zuoberst saßen und Almosen gaben, beteten und fasteten, damit sie von den Leuten gesehen würden. Ihr Auftreten war ein überaus würdiges. Sie sollten in Israel mehr geehrt werden, als Vater und Mutter. "Wenn dein Vater und dein Rabbi Mangel leiden, sollst du deinen Rabbi zuerst speisen und danach deinen Vater" – wurde dem jüdischen Sohne eingeprägt. Die meisten dieser Schriftgelehrten, welche einen fest geschlossenen Stand bildeten, aber keinen priesterlichen Charakter hatten, gehörten einer Partei an, die in den Evangelien gewöhnlich in engster Verbindung mit ihnen genannt ist: den Pharisäern oder "Abgesonderten". So nämlich nannte man die gesetzlichsten unter den Juden, welche am strengsten nach den Vorschriften der Schriftgelehrsamkeit lebten, sich ängstlich hüteten vor aller Berührung mit unreinen Gegenständen und sich absonderten von allen unreinen Personen. Was aber rein und unrein sei, und wie man rein oder unrein werde, das eben musste durch ein genaues und unermüdliches Studium des Gesetzes erlernt werden. Darum war es für einen jüdischen Jüngling ein hoher Vorzug, Schüler eines pharisäischen Schriftgelehrten zu sein und zu den Füßen eines solchen Meisters eingeführt zu werden in alle Fragen, womit sich die Rabbiner Nacht und Tag beschäftigten. – Man erinnere sich, wie Paulus in seiner Rede vor dem auf dem Tempelplatze zu Jerusalem versammelten Volke davon sprach, dass er einst «…zu den Füßen Gamaliels mit allem Fleiß im väterlichen Gesetze unterwiesen» worden sei. [Apgesch. 22,3].

7. Christus hat hart wider die "Pharisäer und Schriftgelehrten" geredet, hat sie "Heuchler" genannt und ein siebenfaches «Wehe» über ihnen ausgerufen. Wenn es auch unter ihnen ohne Zweifel viele ernste und aufrichtige Männer gab – denken wir an Nikodemus, Gamaliel, Paulus oder an den Schriftgelehrten, dem unser Herr sagen konnte, dass er nicht weit vom Reiche Gottes sei – so verdiente doch ihr Stand den Vorwurf der Heuchelei in des Wortes tiefster Bedeutung. Denn sie haben jenen Geist äußerer Gesetzlichkeit in ihrem Volke genährt und groß gezogen, da man sich zufrieden gibt mit äußeren Leistungen und Handlungen und sich wenig kümmert um den Zustand des Herzens, um Gesinnung, Glauben, Liebe, Demut und Wahrhaftigkeit. Darum nennt Jesus die gesetzesstrengen Juden seiner Zeit übertünchte Gräber, "auswendig erschienen sie hübsch, inwendig aber sind sie voller Moder und Totengebeine". Die Schriftgelehrten haben die einfachen Gebote Gottes in tausende und zehntausende von Satzungen verwandelt und damit eine unerträgliche Last, einen erdrückenden Berg auf das Herz und eine dicke Decke auf die Augen ihres Volkes gelegt.

8. Einige Beispiele mögen dies zeigen. Der Hauptgedanke der jüdischen Schriftgelehrsamkeit war folgender: Religion ist Kenntnis und Erfüllung des göttlichen Gesetzes. Gott gibt den Lohn für Gesetzeserfüllung nach der Größe und Menge der Leistungen. Der Lohn besteht für den einzelnen in irdischem Glück oder ewigem Leben, für das Volk aber im Kommen des Messias. Den Messias, den verheißenen König und Sein Reich wollte man erlangen, ja vom Himmel herabzwingen durch die vielen guten Werke, durch Sabbatfeier, Fasten Reinigungen und viele lange Gebete. „Wenn Israel auch nur einmal den Sabbat vollständig hielte, würde es sofort erlöst,“ d. h. der Tage des Messias teilhaftig werden! (Vergl. Dazu, was Paulus Apgsch. 26, 6 – 7 vor König Agrippa ausspricht).

9. Welcher Art war nun die Auslegung des Gese tzes, von dessen Erfüllung so Großes erwartet wurde? Nehmen wir z. B. das 4. Gebot: «Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest; am Tage des Herrn sollst du kein Werk tun». Was heißt das? Die Lehrer Israels zählten 39 Arbeiten auf, welche am Sabbat verboten sein sollten; darunter zwei Buchstaben schreiben, Feuer anzünden und löschen, einen Knoten machen oder auflösen, kochen, Vieh füttern, ernten, Lasten tragen usw. Aber auch bezüglich dieser verbotenen "Werke" gibt es mancherlei Bestimmungen und Unterscheidungen. Wer zwei Buchstaben auf Papier schreibt, ist der Gesetzesübertretung schuldig; schreibt er sie in den Staub oder Sand, so der Wind sie verweht, so ist er unschuldig, schreibt er den einen am Morgen, den anderen am Abend auf Papier, so ist er nach der Meinung einiger Rabbiner schuldig, nach anderer Ansicht unschuldig. – Das Ernten ist am Sabbat verboten. Aber was heißt ernten? Ernten heißt schon ein paar Ähren ausraufen und die Körner essen, wenn man durchs Feld geht, wie einst die Jünger Jesu am Sabbat getan (Mark. 2,23). – Man soll nicht Lasten tragen am Sabbat. Aber was heißt, Lasten tragen? So viel Milch vom Platze tragen, als zu einem Schlucke genügt, so viel Speise tragen, als eine dürre Feige ausmacht – schon dies ist Übertretung. Die Frage wurde aufgeworfen, ob ein Verstümmelter mit seinem hölzernen Stelzfuße am Sabbat ausgehen dürfe oder ob auch dies ein verbotenes Lastentragen sei, - sie ward von den einen bejaht, von anderen verneint. Lange Verhandlungen und Schulstreitigkeiten entstanden über die Frage: „Was mit dem Ei zu tun sei, das eine Henne am Sabbat legt?“ Ein ganzes Traktat des Talmud hat von dieser hochwichtigen Streitfrage den Titel (Beza) bekommen. – Feuer löschen, auch das Löschen eines brennenden Hauses ist am Sabbat untersagt; wie viel aber darf man hinaustragen? Die heiligen Schriften soll man jedenfalls retten, von den Vorräten einen Korb Brot und ein Fass Wein – sonst nichts. Das Menschenleben freilich ist ausgenommen; Lebensgefahr hebt den Sabbat auf. In Lebensgefahr ist auch ärztlicher Beistand gestattet, - in anderen Fällen jedoch nicht. – Soviel über den Sabbat. Wir erkennen daraus, dass es doch nur einer kleinen, besonderes wohl situierten Klasse der Bevölkerung möglich war, den Tag des Herrn nach pharisäischer Vorschrift zu feiern.

10. Noch tiefer eingreifend ins tägliche Leben aber waren die weitschichtigen zahllosen Verordnungen über die Reinheit und Beseitigung der Unreinheit an Personen und Sachen Für jede Art von Gefäßen und Geräten, ob flach oder hohl, ob aus Metall, Holz oder Ton, war festgesetzt, wie sie gereinigt werden müssten, damit sich die ihnen anhaftende Unreinheit nicht auf die Speisen und dadurch auf den Menschen. Vor jeder Mahlzeit sollen die Hände gewaschen werden, um Befleckung zu entfernen. Die Frage erhob sich, ob dies mit laufendem oder stehendem Wasser zu geschehen habe, welche Gefäße für letzteres verwendet werden dürften, ob die Hände bloß übergossen oder ins Wasser eingetaucht werden müssten. Die letzte Frage wurde dahin entschieden, dass bei gewöhnlichen Mahlzeiten das Begießen der Hände genüge, vor Opfermahlzeiten dagegen die Eintauchung notwendig sei. Von dem berühmten Rabbi Akiba wird uns erzählt, dass ihm, als er von den Römern gefangen war, das Wasser zur Waschung entzogen wurde. Da sprach der Weise: „Was soll ich tun? Für Unterlassung der Handwaschung ist man des Todes schuldig. Besser ist's, ich ziehe mir selbst den Tod zu, als dass ich das Gebot übertrete.“ Und er aß nichts mehr, bis ihm das nötige Wasser wieder gewährt wurde.

11. Ein anderes Beispiel: Im Gesetz Mose ist aus uns unbekannten Gründen geboten: «Du sollst das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen» [5. Mose 14,21]. Was folgerten die Rabbiner aus dieser einfachen Vorschrift?

I ) Damit du nicht in Gefahr kommst, sie zu übertreten, sollst du überhaupt nie Milch und Fleisch zusammen kochen.

II ) Du sollst auch nicht Milch und Fleischspeise zusammen genießen, damit sie nicht im Magen zusammen kommen, gekocht und verdaut werden.

III ) Wenn du Käse gegessen, darfst du sechs Stunden lang, bis er völlig verdaut sein wird, kein Fleisch essen.

IV ) Du sollst auch nicht dasselbe Gefäß haben, um das eine Mal Milch, das andere Mal Fleisch darin zu kochen, sondern für jede dieser Speisen einen besonderen Topf.

V ) Und endlich sollst du von Heiden weder Milch noch Fleisch annehmen, weil sie dir in einem unreinen Gefäß überbracht werden könnten.

12. Diese Gesetzlichkeit erstreckte sich aber nicht bloß aufs äußere Leben, Essen, Trinken u. dgl , sie wurde auch hineingetragen ins Heiligtum des persönlichen Lebens mit Gott: auch das Gebet war ihr unterworfen. Dreimal täglich – am Morgen, Nachmittag und Abend sollte der Israelite bestimmte Gebetsformeln, von denen die wichtigste (das schöne Schmone-esre oder "Gebet der achtzehn Lobpreisungen") sehr umfangreich ist, wiederholen. – Um das Gebet kräftig und vor Gott gültig zu machen, musste mancherlei beobachtet werden . Zunächst die Zeit: es war festgestellt, wann das Morgengebet gesprochen werden sollte und von welcher Stunde an, es nicht mehr gelten würde. Aber auch der Ort: verdienstlicher als das häusliche Gebet und allein vollwertig ist das in der Synagoge gesprochene. Die Art und Weis e : kannst du nicht das ganze mit Andacht beten, so doch den ersten Teil, für den Rest genügt das Hersagen. Das Gebet darf mit leiser Stimme gesprochen werden, aber mehr Verheißung hat das laute, deutliche Sprechen. Hast du dich in den Worten geirrt, so beginne wieder von vorne! Endlich die Körperhaltung: wer betet, bete in gebeugter Stellung, das Haupt tief geneigt; je tiefer die Verbeugung, um so verdienstlicher das Gebet. Viel wurde auch auf rechte Vorbereitung zum Gebete gehalten. Man sollte es nicht schnell abtun als eine Last, sondern sich dafür Zeit lassen und in die vorgeschriebene Formel womöglich noch einiges einfügen. „Wer seine Gebete lang macht, wird nicht leer zurückkehren.“ So fehlte es also nicht an dem richtigen Gefühle, dass dem ewigen und heiligen Gott, als dem Schöpfer und Herrn der Welt und unseres Lebens Anbetung gebühre von Seiten der Menschen. Auch die Gaben des täglichen Brotes, Speise und Trank sollten nie ohne Danksagung, ohne den Lobpreis des Gebers genossen werden. Allein, man beachte es wohl; auch die Anbetung, der Lobpreis, die Danksagung war gesetzlich bis ins Kleinste geregelt, keine freie Äußerung des Herzens, und alles Gebet eine Pflicht, eine Gott dargebrachte Gabe, ein unblutiger Opferdienst, eine Leistung für deren genauen Vollzug man Lohn erwartete.

13. In welchem Gegensatz stand doch diese ganze Verehrung Gottes durch äußeren Gesetzesdienst, auch Gebetsdienst, zu dem, was Jesus einst am Jakobsbrunnen zur Samariterin gesprochen hat: «Gott ist Geist, und die Ihn anbeten, müssen Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten!» Wir begreifen daraus, warum der Herr mit so furchtbarer Schärfe gegen die Lehrer Seines Volkes geredet, und warum Sein Jünger, der Apostel Paulus, der einst selbst dies alles mitgemacht und durchgemacht hat, nicht müde geworden ist, die junge Christenheit zu warnen vor diesen Abwegen einer falsch erdachten Frömmigkeit. "Sie eifern um Gott, doch mit Unverstand", sagt er seinen Volksgenossen und ruft den Christengemeinden zu: "Ihr, liebe Brüder seid teuer erkauft, Werdet nicht der Menschen Knechte!" Er, der nach der Gerechtigkeit des Gesetzes unsträflich war, hat doch diesen Vorzug für Schaden erachtet, ja, für "Unrat", damit er statt dessen Christum gewinne, in Ihm erfunden werde, und die Gerechtigkeit erlange, die nicht aus dem Gesetz kommt, sondern aus dem Glauben an Christus.

14. Das also war die Zeit Jesu Christi. Das jüdische Volk war gedrückt durch seine Obersten, ohne nationale Könige. Seine Hohenpriester waren keine Mittler, keine Hirten mehr. Seine Lehrer waren blinde Leiter der Blinden. Die Stillen im Lande warteten auf den Trost Israels. Wir erkennen es deutlich: Jesus, der Davidssohn, ist nicht aus dieser Zeit und aus dem Geschlecht seiner Tage hervor gewachsen, sondern eine Gabe von oben: "Gott geoffenbart im Fleisch".

15. Aber die Welt war bereitet für Sein Kommen. Ein gründlicher Kenner der neutestamentlichen Zeitgeschichte (Hausrath) spricht sich darüber aus: „Dass Er in diesem Augenblick geboren ward, das ist ein so deutlicher Eingriff einer höheren Macht in irdische Zusammenhänge, wie es einen zweiten nicht gibt.“ Und wenn auch die große Menge des unglücklichen jüdischen Volkes sich gegen den göttlichen Hirten verschloss und auf die Stimme seines besten Freundes und Helfers nicht hören wollte, dürfen wir doch mit dem Evangelisten Johannes bekennen: «Er kam in Sein Eigentum, und die Seinen nahmen Ihn nicht auf; wie viele Ihn aber aufnahmen, denen gab Er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an Seinen Namen glauben», (Joh. 1,11-12) und daher das erfüllen, was Er zu erfüllen gelehrt hat! -

 

 

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